Wenn ich sage: „Es gibt keine objektive Wahrheit“, dann ist dies aus konstruktivistischer Sicht kein „performativer Widerspruch“ im Sinne von: „Es ist eine objektive Wahrheit, dass es keine objektive Wahrheit gibt.“ Die konstruktivistische Variante dieser Aussage wäre vielmehr: „Das Konzept einer 'objektiven Wahrheit' funktioniert nicht.“ bzw. „Das Konzept einer 'objektiven Wahrheit' ist nicht viabel.“.


Nun könnte man einwenden, die Aussage „X funktioniert nicht.“ würde implizieren: „Es ist objektiv wahr, dass X nicht funktioniert.“ Aber auch dies würde dem konstruktivistischen Ansatz nicht gerecht. Wir können hier den Wahrheitsbegriff umgehen, indem wir sagen: „Die Aussage 'X funktioniert nicht' funktioniert.“ An dieser Stelle ist entscheidend, dass das „Funktionieren“ bzw. die „Viabilität“ nicht mit einer „Wahrheit des Funktionierens“ identisch ist.


Was der Wahrheitsbegriff im traditionellen Sinne bedeutet, hat Platon mit seinem Eutyphron-“Dilemma“ besonders deutlich hervorgehoben. Das Wahre bzw. das Gute (beides ist bei Platon identisch) ist laut Platon nicht wahr bzw. gut, weil die Götter es wollen, sondern die Götter wollen es, weil es wahr bzw. gut ist. Wäre die Wahrheit von den Göttern abhängig, dann könnte sie sich jederzeit gemäß der Launen und Absichten der Götter ändern. Was heute Wahrheit ist, muss jedoch Platon zufolge auch zukünftig Wahrheit sein. Dies ist zwar plausibel auf einer rein LOGISCHEN Ebene, stützt aber nicht die Behauptung, das Konzept einer „objektiven Wahrheit“ sei auf einer EMPIRISCHEN Ebene selbstevident.


Der traditionelle Wahrheitsbegriff steht für ein statisches Konzept von Wahrheit, das für immer und ewig gelten soll. Das Konzept der Viabilität hingegen bezeichnet ein Realitätskonstrukt, das stets nur „bis auf Weiteres“ gilt. Es ist prinzipiell immer offen für Korrekturen oder sogar für eine Falsifikation; das Konzept der „objektiven Wahrheit“ ist es nicht.

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